Die Oberstufe

9. Klasse:

Jugendliche in dieser Altersstufe erleben häufig Enttäuschungen ihres bis dahin vorhandenen Vertrauens in das Gelingen des eigenen (und fremden) Tuns. Sie bemerken bei sich und anderen die Diskrepanz von Reden und Handeln. An Idealen orientiert, fragen sie nach Wahrhaftigkeit und verlangen oft die unbedingte Realisierung eines gefassten Entschlusses oder einer Erkenntnis. Da der seelische Innenraum unsicher erlebt wird, liegt eine Sicherheit versprechende Auseinandersetzung mit der Außenwelt näher. Dies ist bildlich ausgesprochen die „Columbus- Situation“: Eine Idee entsteht in der Persönlichkeit, wird sehr stark empfunden und soll am noch Unerfahrenen auch mit hoher Risikobereitschaft erprobt werden. Da dies häufig nicht gelingt oder die Idee fast immer relativiert wird, erfahren Schüler der 9. Klasse die Welt oft als zerrissen. Die Selbstbehauptung gegen (so erlebte) Angriffe auf ihre Persönlichkeit erscheint notwendig, während die Wahrnehmung seelischer Vorgänge im Gegenüber selbst starke Emotionen hervorruft. Das Bewusstwerden des Eigenempfindens kann zu einer objektiven Einschätzung von Situationen führen. Pädagogisch besteht daher, fächerübergreifend, die Aufgabe, diese Situation zu spiegeln und die Jugendlichen beim Finden ihres neuen Verhältnisses zu sich und zur umgebenden Welt fördernd zu unterstützen.

10. Klasse:

Mit dem Abklingen der seelischen Pubertätsturbulenzen ist bei den Jugendlichen oft ein deutliches Ringen zu bemerken, sich in das Weltgeschehen einzuordnen. Der eigene Standpunkt wird gesucht, nach Begründungen der menschlichen Existenz gefragt. Dieses Ringen schließt einerseits das Bemühen um einen Ausgleich zwischen der subjektiven Emotionalität und den Einsichten in Notwendigkeiten ein, bewirkt andererseits aber oft eine bis ins Radikale reichende Suche nach dem Existentiellen. Ähnlich ambivalent ist das Sozialverhalten: Sehnsucht nach Abgrenzung und ein starkes Zugehörigkeitsbedürfnis wechseln sich ab. Rollen werden ausprobiert, Gruppen neu gebildet, das Andere, Fremde, ist von größtem Interesse. Die Möglichkeit, mit dem eigenen Verstand Weltzusammenhänge zu erschließen deutet sich als Mittel an, sich aus der einseitig empfindungsorientierten Befindlichkeit zu lösen. Diese Bestrebungen werden in allen Fächern des Unterrichtes unterstützt.

11. Klasse:

Die Phase um das 17. Lebensjahr kann als Adoleszenz bezeichnet werden. Die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Außenwelt ist nicht mehr so stark von Abgrenzung und Reibung sondern eher von der Suche nach dem Wesentlichen geprägt. Der eigene Innenraum wird bewusster. Das Gespür der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, das Erleben eigener Werte lassen die Frage nach biographischen Zusammenhängen lebendig werden. Aus dieser neu gewonnenen Innenorientierung, die gelegentlich auch Züge tiefer Melancholie annehmen kann, spricht das Bedürfnis, in sich und in der Welt Authentisches zu finden. So kann neben der Egozentrik auch eine eindrucksvolle Frühreife in der Empathiefähigkeit zum Ausdruck kommen. Das Interesse an Weltanschauungen und Philosophie resultiert aus dieser Entwicklung. Der Unterricht kann nun an die Möglichkeiten zu differenziertem, abwägenden Urteilen und an die neu gewonnene Neigung zur Feinsinnigkeit anknüpfen.

12. Klasse:

Die Jugendlichen in der 12. Jahrgangsstufe sind in der Regel 18 Jahre alt und werden als Erwachsene angesprochen. Haben sie sich in ihrer Kindheit unbewusst zunächst in das Milieu ihrer sozialen Umwelt und den Wertekanon der Gesellschaft integriert, diesen dann schrittweise hinterfragt, müssen sie sich nun fragen, wie sie selbst diesen Lebensraum verantwortlich mitgestalten wollen. Diese Erkenntnis kann sowohl als Chance wie auch als existentielle Krise aufgefasst werden: Was heißt es, in der heutigen Welt zu leben? Bin ich für diese Welt vorbereitet? Wofür will ich mich einsetzen? Fragen, Hoffnungen und Ängste im Hinblick auf Beruf, Partnerschaft und Lebensgestaltung sind an die Fragen nach den Grenzen der Erkenntnis, an die Quellen moralischen Handelns und – ganz allgemein – nach den Möglichkeiten ausgerichtet, einen Überblick über die eigene Situation in Bezug auf die Welt zu gewinnen. In diesem Sinne ist es die Intention des Unterrichts in der 12. Klasse, Ansporn zu einem lebenslangen Lernprozess zu geben, zu der Bereitschaft, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen. Um dies zu ermöglichen, fordert die Entwicklungssituation in dieser Altersstufe, den jungen Erwachsenen in allen Fächern einen Überblick in umfassenden Sinn zu verschaffen, mit dem Ziel, Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten von Erscheinungen und Abläufen zu gewinnen. Durch diese Orientierungsmöglichkeiten sind sie in der Lage, eigene Standpunkte zu beziehen, Sinn zu entdecken und sich so in den neuen Lebenssituationen nach der Schulzeit offen fortentwickeln zu können

13. Klasse:

Der Rahmen der eigentlichen Waldorfschule spannt sich bis zur 12. Klasse. Im Anschluss daran können sich in der 13. Klasse diejenigen Schüler auf das Abitur vorbereiten, die diesen Abschluss anstreben. Die als solche staatlich anerkannte gymnasiale Oberstufe beginnt mit der 11. Klasse (Einführungsphase) und setzt sich in der 12. und 13. Klasse (Q1 bis Q4) fort. Zurzeit werden an der Freien Waldorfschule Marburg die abiturrelevanten Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Biologie als Leistungskurse angeboten.